zum Gedenken

Günther Reiche // Alles falsch gemacht??

- Rückblick eines alten übriggebliebenen Nörgelsackes -

Leonberg - Eltingen 2007

Wenn es dem Ende zugeht, kann man einmal zurückschauen und sich fragen: Was hast du aus deinem Leben gemacht? Und man überlegt sich auch: Was hast du alles falsch gemacht? Natürlich stellt man heute fest, dass man in dieser oder jener Lage anders hätte entscheiden können oder sollen. Aber die Entscheidung ist ja mit dem Wissen - und vielleicht auch unter dem Druck von damals getroffen worden. Sich deshalb im Alter mit Selbstvorwürfen zu quälen, ist nicht angebracht.
Und so tröste ich mich bequemerweise mit den Überlegungen: Was machen denn die anderen falsch?


Berufsleben

Als ich in die Lehre kam, es war noch vor dem 2.Weltkrieg, hatte ich das Berufsziel: Ingenieur.

In einem Gespräch mit einem älteren Ingenieur, der in einem bedeutenden Betrieb des Werkzeugmaschinenbaues tätig war, beklagte sich dieser, dass die jungen Ingenieure alle ins Konstruktionsbüro strebten, aber keiner in die Werkstatt. Dazu muss ich sagen, dass man damals noch allgemein von Ingenieur sprach und nicht trennte in Konstrukteur und Technologe. Jedenfalls hatte sich der Mann gezwungen gesehen, sich einen jungen Ingenieur aus dem Konstruktionsbüro als seinen Assistenten in die Werkstatt zu holen. Und er bemerkte dazu mit einigem Stolz: Als ich den nach vier Jahren wieder in das Konstruktionsbüro habe gehen lassen, hat der ganz anders konstruiert! Das war ja logisch: denn der Jungingenieur hatte kennen gelernt, wie die Teile gefertigt werden und hat sie mit diesem Wissen fertigungsgerecht konstruiert.

Heute gibt es in den Betrieben eine strikte - manchmal zu strikte - Trennung zwischen Konstruktion und Technologie, da weis oft die Linke nicht, was die Rechte tut. Hinzu kommt, dass die Technologie jetzt in der Lage ist, jedes Werkstück, und sei es noch so kompliziert geformt, relativ preiswert herzustellen.

Gegen Ende meines Berufslebens konnte ich von der IHK aus als Dank für meine Tätigkeit in Prüfungsausschüssen an einer Betriebsbesichtigung in einem bekannten Automobilwerk im süddeutschen Raum teilnehmen. Wie es üblich ist, gab es am Ende eine Aussprache. Da habe ich mich gemeldet und auf ein Missverhältnis hingewiesen. Bei der gesamten Fertigung der Karosserie hat kein Arbeiter seine Finger im Spiel. Das beginnt beim Abheben des ersten Bleches mit Saugnäpfen vom Stapel. Jede Weiterreichung erfolgt über mechanische Greifer. Es wird automatisch punktgeschweißt. Und am Ende ist die gesamte Karosse fertig zum Einbau der weiteren Elemente. Wenn man jetzt diese hochmoderne Fertigung mit dem, was da hergestellt wurde, vergleicht, fragt man sich: Was ist das für eine Firlefanz-Konstruktion?! Da ist hier ein Abstandsblech und da ein Winkelstück. eine Versteifungsrippe, ein Übergangsteil, ein Zwischenprofil usw.

Und was bekomme ich als Antwort? "Ja das ist Sache der Konstruktion, wir sind hier die Technologie!" Und das ist in vielen Betrieben so. Was könnte erreicht werden, wenn die beiden nicht nebeneinander her, sondern zusammen arbeiteten? Das ist eine wichtige Aufgabe für das Management!


Schule

Gehen wir in einen anderen Bereich.
Eine Zeit habe ich an einer relativ kleinen Kreisberufsschule gearbeitet, die bald zu einem großen Berufsschulzentrum ausgebaut wurde.
Die Sekretärin, die an dieser Schule groß geworden und mit allen Wassern gewaschen war, hat den Architekten angesprochen, wie das neue Sekretariat zu gestalten sei. Der Architekt hat sie überhaupt nicht angehört und nur gesagt: "Ich bau Ihnen ein schönes Sekretariat!"
Sie hat ihn etwas später ein zweites Mal angesprochen, und ohne sie anzuhören, hat er erneut gesagt: "Ich bau Ihnen ein schönes Sekretariat! Ich bau Ihnen ein schönes Sekretariat" Am Ende war das Sekretariat so "schön", dass sich die Sekretärinnen geweigert haben umzuziehen.
Und da Schulleitung und Sekretariat zusammengehören, ist die Schulleitung auch abseits im Altbau geblieben und nicht wie vorgesehen, ins Zentrum des Neubaues gezogen.

Eine andere architektonische Glanzleistung hat man sich mit der Heizung geleistet. Mit der Umluftanlage wird die verbrauchte Luft aus den Klassenzimmern gesaugt und ihre Temperatur wird gemessen. Nach dem Messergebnis wird die Heizung geregelt. Die Klassenzimmer haben nicht nur große Fenster. da ist praktisch die gesamte Front verglast. Und wenn im Winter bei Minusgraden die Sonne auf die Glasfront der Südseite scheint, heizen sich die Räume natürlich stark auf. Deshalb reißen Schüler oder Lehrer die Fenster auf, um eine angenehme Temperatur zu erreichen. Aber dadurch kommt die kalte Außenluft in den Messbereich der Umluftanlage, und die befiehlt bei dieser Kälte selbstverständlich: "Heizen!"
Von dem Volk der Dichter und Denker haben wir uns wohl weit entfernt.

Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass die deutschen Schüler nicht die Leistungen erreichen, die man von ihnen erwartet. Nun gibt es an der Schule
 1. Lehrpläne,
 2. Lehrer und
 3. Schüler.

Und in dieser Reihenfolge sollte man auch vorgehen, um die Leistungen der Schüler zu verbessern. Zunächst ist also zu prüfen, ob der Inhalt der Lehrpläne noch zeitgemäß ist?

Da fällt mir der erste Schulleiter ein, unter dem ich als Berufsschullehrer gearbeitet habe. Er stellte einmal fest:
Der Lehrer, macht, was er gern macht! Was jemand gern macht, macht er auch gut. Die Frage ist, ob es notwendig ist? Wenn neue Lehrpläne erarbeitet werden, stellt man dafür einige erfahrene Lehrer vom Unterricht frei. Und dann besteht durchaus die Gefahr, dass diese (weltfremden?) Lehrer in die Lehrpläne hineinschreiben, was sie gern machen.

Als Zweites muss man den Lehrern helfen. Mir ist bekannt, dass sich Lehrerstudenten in ihrem Fach gut ausgebildet fühlen, aber die pädagogische Anleitung und Erfahrung kommt zu kurz.
Ich hatte das Glück eine Zeit lang an einer Schule gearbeitet zu haben, wo die Lehrer gleicher Fachgruppen einmal im Monat zusammenkamen, um sich auszutauschen. Und der erste Tagesordnungspunkt waren immer: Pädagogische Probleme!

Und wenn zehn Lehrer vier Wochen lang unterrichtet haben, dann ist in dieser Zeit mindestens einer der Lehrer einmal in eine Situation geraten, wo er nicht sicher war, ob er richtig reagiert hat. Und darüber muss man sich austauschen!

Da hat doch bei mir ein Schüler seinen Zeigefinger in den Mund gesteckt neben den Zähnen an die Wange und hat ihn herausschnappen lassen. Das klang "Plobb" als wenn man eine Flasche entkorkt. Einige Schüler haben darüber gelacht. Und ich habe gleich gekontert: "Ja - so klingt das - bei einer richtigen Flasche!"
Diese Schlagfertigkeit hat der Lehrer natürlich nicht immer und deshalb ist der Austausch unter Kollegen wichtig! So können sich die Lehrer gegenseitig weiterhelfen.

Ein anderes Beispiel: Eine Schülerin kann in einer Rechenarbeit eine Aufgabe nicht lösen. Sie lässt den Platz auf ihrem Blatt frei und schreibt mit einem harten und scharf gespitzten Bleistift aber noch lesbar hin: Scheise.

Wie reagiert der Lehrer? Das bequemste ist, er übersieht es.
Oder er stellt die Schülerin zur Rede?
Er stellt sie vor der Klasse bloß?
Er rechnet ihr als Fehler an, dass sie das Wort nur mit "s" und nicht mit "ß" geschrieben hat?

Oder er schaut bei den anderen Schülern nach, ob sie auch Schwierigkeiten mit der Lösung der Aufgabe hatten? Wenn das zutrifft, muss er seine Aufgabenstellung und seine Vorbereitung der Klasse auf die Arbeit überprüfen.

Und damit sind wir bei Pestalozzi, der uns lehrt: Von allen Fehlern seiner Schüler suche der Lehrer den Grund in sich! Ich gebe Pestalozzi nach 35 Jahren praktischer Erfahrung im Unterricht voll recht! Sind Punkt 1 und 2 geklärt, kann man Punkt 3 vergessen!

DB

Kommen wir zur Deutschen Bahn.
Für mich ist sie geradezu ein Musterbeispiel dafür, was man alles falsch machen kann. Es bestand der Bedarf der Modernisierung, und man wollte dem Flugzeug Konkurrenz machen. Ob die Bahn jemals ernsthaft ermittelt hat, wie viel Zeit der Weg zum Flugplatz, das Einchecken und am Ziel der Rückweg in die Stadt beanspruchen, wage ich zu bezweifeln.
Weitsichtige Planer und weitsichtige Politiker (gibt es die überhaupt noch?) hätten auf den Transrapid gesetzt, dann hätte Deutschland ein modernes beispielhaftes Verkehrsnetz gehabt. So aber hat man sich den französischen TGV zum Vorbild genommen, hat aber nicht bedacht, dass Frankreich ja weiten Teilen ein ebenes Land ist, während wir nur die norddeutsche Tiefebene haben und im übrigen ein Mittelgebirgsland sind.
Stattdessen hat man den Ehrgeiz, die Bahn unbedingt an die Börse zu bringen. Da denke ich daran, dass es früher zur Grundausbildung eines Ingenieurs gehörte, die Bücher von Henry Ford gelesen zu haben. Er schreibt an einer Stelle: "Sobald man die Industrie (oder die Bahn) als eine Geldheckmaschine für eine bestimmte Klasse betrachtet und nicht als ein Instrument, um für alle Menschen Werte zu schaffen (Transportleistungen zu erbringen), werden die Bedingungen verwirrt, und häufig folgt der Zusammenbruch."
Das ist uns in den letzten Jahren mehrfach deutlich demonstriert worden. England hat die Privatisierung der Bahn wieder rückgängig gemacht, aber die Deutsche Bahn hält weiter am - Börsengang fest. Und wenn schon ICE, dann weniger hohe Geschwindigkeit stattdessen mehr Komfort, hätte der Bahn gut getan.

Meine erste Fahrt mit einem ICE begann auf der Strecke von Stuttgart nach Bruchsal. Ich hatte mich auf die Fahrt gefreut und wollte vom Zug aus die Landschaft genießen, was man ja am Steuer eines Autos nicht kann. Wir hatten gerade das Weichbild der Stadt Stuttgart verlassen, da waren wir schon drin im ersten Tunnel. Als wir ihn verließen, wollte ich mich nun auf die Landschaft konzentrieren, da waren wir bereits im nächsten Tunnel. Das ging so bis Bruchsal.

Dann hatte ich erkannt, dass ich für die DB kein Fahrgast, sondern nur Transportvieh war. Im Speisewagen war ich der einzige Gast. Ob man da mit "Qualität" und "Preis" etwas nachgeholfen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Jetzt trägt man sich mit dem Gedanken. die Speisewagen aus den Zügen zu nehmen und gegen normale Wagen auszutauschen. Das gibt 95 Plätze mehr für Transportvieh - und so will man an die Börse.
Dabei wissen wir kleinen Bürger nicht einmal, wer denn an die Börse will? Sind es die Politiker? Der Herr Mehdorn ist es doch wohl kaum? Wer steckt denn wirklich dahinter?

Oder nehmen wir einmal die Strecke von Karlsruhe über Stuttgart - Nürnberg - Hof - Plauen - Dresden - Görlitz. Bei den vielen Kurven bietet sich an, Neigetechnik - Züge einzusetzen, aber diese Entwicklung hat ja die DB erst einmal verschlafen. Da sind uns die Italiener um Jahrzehnte voraus.

Und die Strecke Karlsruhe - Görlitz hat noch eine Besonderheit. Als die Sächsisch - Bayrische Bahn gebaut wurde, haben die Fürsten von Reuss nicht zugelassen, dass die Strecke über ihr fürstliches Gelände führt.
So kommt es, dass es auf der Straße vom Hof nach Plauen 28 km sind - und für die Bahn sind es 48 km!
Wenn man diese Strecke begradigt und nicht, wie inzwischen geschehen, nur Neigetechnik - Züge einsetzt allerdings auf der Gesamtstrecke, wäre man zwei Stunden früher in Görlitz!

Und sicher gibt es heute noch manche Strecke, die begradigt werden könnte. Aber da müssten Eisenbahnfachleute mit Streckenkenntnis am Werke sein und keine börsengeilen Manager.


Umwelt

In den 60er Jahren sprach ich mit einem jungen Polen, der an der Forstakademie Tharandt Ökologie studierte, und habe ihm gesagt, dass ich es gut finde, wenn man heute schon damit beginnt, dass uns später einmal nichts ans Bein läuft. Seine Antwort hat mich verblüfft: "Wenn es nicht schon zu spät ist!"
Und was haben wir seither getan? Damals haben wir einen Urlaub an der jugoslawischen Adriaküste verbracht und die verkarsteten Steilhänge gesehen, die durch das Abholzen der Wälder für den Schiffbau entstanden sind. Mir war zu dieser Zeit bekannt, dass es einen Kunststoff, Schaumstoff, gibt, den man auf die nackten Felsen aufsprühen konnte, der fest hält und der Wasser speichert.. Wenn man das damals versucht hätte und alle möglich Gras- und Pflanzensamen ausgebracht hätte, wie sähe der Hang heute nach 40 Jahren aus?
Und wie hoch wären die Kosten, im Vergleich zu den Rüstungskosten dieser Welt?

Es sind aber wohl immer zuerst die kleinen Leute, die das richtige tun.
So hat mein Freund und Hauswirt als einer der ersten eine Heizschleife zur Erwärmung des Brauchwassers mit Sonnenenergie auf das Dach seines Hauses gelegt, die arbeitet seit über 30 Jahren und hat sich längst amortisiert.
Keiner unserer schlauen Umweltminister hat die Häuslesbauer dazu angeregt. Da bremsen wohl die Stromkonzerne? Die aber hätten doch ohne weiteres in die Solarenergie einsteigen können, dann hätten Sie auch in Zukunft etwas zu verkaufen!

Man gewinnt den Eindruck, dass Intelligenz unter den Managern doch wohl sparsam verteilt ist. Das trifft aber auch auf viele kleine Leute zu. Sie sagen: Ja, ich könnte mir auch so eine Solaranlage auf und in meinem Haus installieren, aber wenn es der Staat nicht verlangt, warum sollte ich es dann tun? Und derselbe Mann stellt sich hin und sagt: "Ich bin ein selbstbewusster und intelligenter Bürger. ich weiß, was ich zu tun habe und brauche nicht soviel Staat!"
Und wenn man die angeblich intelligenten und verantwortungsbewussten Bundesbürger fragt, warum sie einen kraftstofffressenden Geländewagen haben, obwohl sie ihn niemals im Gelände fahren, bekommt man zur Antwort: "Ich bezahl doch den Kraftstoff!"


Politik

Gehen wir einmal in die Politik. Von Zeit zu Zeit finden Wahlen statt, mit unterschiedlicher Wahlbeteiligung.
Und wenn 20% nicht zur Wahl gehen, liegt das daran, dass sie bei den Figuren, die sich zur Wahl stellen, beim besten Willen nicht wissen, wem sie vertrauen und ihre Stimme geben können. Mit welchem Recht maßen sich dann die gewählten Parteien an, die restlichen Parlamentsplätze - für die es gar kein Mandat gibt! - mit weiteren eigenen Parteimitgliedern zu besetzen.
Bei 80% Wahlbeteiligung dürfen nur 80% der Plätze im Parlament besetzt werden! Das führt zu einer strengeren Auswahl und damit höheren Qualität der Abgeordneten und spart viel Geld in der Nachversorgung!


Sport

Kommen wir zum Sport. Da gibt es im Fußball seit einigen Jahren die Dreipunkteregel für einen Sieg. Sie wurde eingeführt um zu erreichen, dass Tore geschossen werden. Dabei war es vorher so, dass der Sieger 2 Punkte bekam und der Unterlegene ging leer aus. Also war der Sieger gut belohnt. Wenn man erreichen will, dass Tore geschossen werden, muss man eine andere Regel einführen: Für ein 0:0 Unentschieden, gibt es keine Punkte! Bei einem 1:1 oder 2:2 usw., wenn die Mannschaften Tore geschossen haben, bekommen sie selbstverständlich einen Punkt.
Und dann wollen wir einmal sehen, wie die hochbezahlten Spitzensportler Wadengas geben, um ein Tor zu schießen, damit es wenigstens zu einem Punkt reicht. Natürlich könnten wir uns hier überheblich trösten und sagen: Na ja, die Regel kommt ja nicht aus Deutschland.


Logische Schlussfolgerung:
Man tröstet sich mit den (angeblichen) Fehlern anderer und sagt sich:
Eigentlich warst du doch ganz gut!


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 24.07.2023 - 17:50